Eine kurze Geschichte des Stillens - Sammelstrang

Fragen und Antworten rund um das Thema Stillen

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inmediasres
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Eine kurze Geschichte des Stillens - Sammelstrang

Beitrag von inmediasres »

Hallo zusammen,

immer wieder mal kommen Fragen auf, warum so viele Falschinfos über das Stillen kursieren (wie hier) oder warum so viele Frauen überzeugt sind, nicht stillen zu können (wie hier). Ich denke, es ist Zeit für einen Sammelthread zu diesem Thema. :D

Ich möchte in diesem Thread eine kleine Geschichte des Stillens entstehen lassen. Lasst uns sammeln und diskutieren. Fragen, Anekdoten, Zitate, Statistiken etc pp rund um das Stillen in früheren Zeiten.

Zum Einstieg erst mal ein paar Fakten.

Stillquoten

"1890 wurden in Berlin an der Brust ernährt 50,7%, 1895 = 43,1%, 1900 nur 32,5%." (1)

Es scheint nicht viele Aufzeichnungen über Stillquoten zu geben. Die Forscher behelfen sich, indem sie Geschwisterfolgen betrachten. Grob gesagt je kürzer der Abstand, desto weniger wurde gestillt.

Aus meiner eigenen Ahnenforschung kann ich sagen, dass in Niederbayern das Nichtstillen in den 1730ern begonnen haben muss. Die erste mit großer Wahrscheinlichkeit nicht-stillende Mutter in meiner Ahnenlinie bekam ihre 9 Kinder in den Jahren 1737-1752 (nach meinem derzeitigen Forschungsstand). Die letzten wahrscheinlich gestillen Geschwister wurden 1832-1850 geboren, 7 Kinder. Meine Urururgroßmütter (selber zwischen 1825 und 1860 geboren) haben anscheinend alle nicht gestillt. Bei ein paar Familien habe ich den Eindruck, dass die ersten Kinder noch gestillt wurden, die späteren nicht mehr. Mütter, die selber nicht gestillt wurden, haben auch ihre Kinder nicht gestillt.

Eng mit den Stillquoten verbunden sind die Sterberaten. Wo wenig gestillt wurde, starben mehr Babys. Nichtgestillte starben 5-12 mal so häufig wie gestillte Säuglinge.

An folgender Statistik sehen wir eine deutliche Zunahme der Sterbequoten, die mit der Abnahme der Stillquoten einher gehen muss.
Sterblichkeit der Kinder im ersten Jahr, bezogen auf die Lebendgeborenen. (1)
1816 = 16,9 %
1830 = 18,1%
1860 = 19,9%
1865 = 20,8%
1875 = 22,3%
1880 = 20,4%
1900 = 20,1%
1901 = 20,0%
1902 = 17,2%
1903 = 19,4%
1904 = 18,5%

Das Sinken der Todesfälle ab 1900 geht einher mit besserer Säuglingsfürsorge und sinkenden Geburtenzahlen.

Die Still- und Sterbequoten waren nicht landesweit gleich, sondern regional unterschiedlich. Im Süden wurde wenig gestillt, im Norden viel. Das schlug sich in den Sterbequoten deutlich nieder.

Statistik zur Säuglingssterblichkeit (Kinder unter 1 Jahr) 1883 (2)
in der Stadt Genf 12,50 %
im Herzogth. Meiningen 16,15 %
in der Stadt London 17,00 %
in der Stadt Paris 17,50 %
in ganz Preußen 18,00 %
in ganz Sachsen 18,10 %
im Großherzogth. Sachsen-Weimar-Eisenach 18,51 %
im Herzogth. Coburg-Gotha 21,39 %
in der Stadt Leipzig 23.02 %
in der Stadt Berlin 24.00 %
in der Stadt Frankfurt a.M. 24,00 %
im Bezirk Oberfranken (Bayern) 25,00 %
in der Stadt Würzburg 25,4-26,30 %
im Großherzogthume Baden 26,13 % (hier bei den jüdischen Familien nur 15 %)
in ganz Bayern 31,54-33,48 %
in ganz Württemberg 31,20-40,80 %
in den nördlichen Gegenden Württembergs 32,00 %
in den Donaugegenden Württembergs 49,90 %
in Niederbayern, in der Oberpfalz (Bayern) 50,00 %


Stillregeln und Stillprobleme

Wir haben alle schon mal davon gehört, dass man Abstände einhalten oder eine bestimmte Zeit an einer Brust anlegen soll. Es lässt sich nicht mit Sicherheit sagen, wo diese Empfehlungen her kommen. Es lässt sich aber gut nachvollziehen, was für eine Entwicklung sie durchgemacht haben seit dem Erscheinen der ersten Erziehungsratgeber im 18.Jhdt.

Die Stillregeln haben sich nicht isoliert entwickelt. Vielmehr galt für alle Menschen, dass es gesund sei, in allen "animalischen" Bedürfnisse wie Essen, Trinken, Schlafen gewissen Regelmäßigkeiten anzustreben. Die ersten Kinderpflegeratgeber waren da noch recht lax. Bei Neugeborenen sei an feste Regeln nicht zu denken, man solle aber versuchen, so bald wie möglich feste Zeiten einzuführen. Graduell wurde es dann immer strenger. Vor allem kam zu dem gesundheitlichen Aspekt der erzieherische dazu. Es gipfelte in den 1930er Jahren, wo schon Neugeborene zu lernen hatten, ihren eigenen einem "größeren Willen" unterzuordnen. Jetzt durfte um keine Minute mehr vom Zeitplan abgewichen werden.

Nun wissen wir ja alle, dass nur ein Stillen nach Bedarf sicher stellt, dass die Mutter auch genug Milch bildet. Wie konnten die Ärzte dann meinen, dass sie mit ihren Regeln auf dem richtigen Weg seien? Sie waren sich durchaus bewusst, dass eine höhere Nachfrage das Angebot erhöht. Vereinzelt findet man Hinweise, dass in den ersten Wochen zur Steigerung auch häufiger angelegt werden durfte. Meist jedoch wird gefordert, die Brust nach dem Stillen noch weiter zu entleeren, also abzupumpen. In Kinderkrankenhäusern unter ärztlicher Aufsicht scheint das funktioniert zu haben, denn es gibt entsprechende Berichte. Gleichzeitig aber waren die Ärzte der Meinung, dass es abhängig von der Stillfähigkeit der Frau sei, wie lange sie stillen konnte. Mit anderen Worten, das Abnehmen der Milchbildung wurde als gegeben hingenommen.

Die Empfehlungen zur Stilldauer haben sich interessanterweise im Laufe der Zeit kaum geändert. Neun Monate sollten die Frauen stillen. Das war das Ziel. Die Mindestanforderung sowie die Art und der Zeitpunkt der Beikosteinführung unterschieden sich jedoch erheblich. Und da kann ich zumindest bis zum 20.Jhdt keine zeitliche Entwicklung ausmachen. Da schien jeder Arzt sein eigenes Süppchen zu kochen. Vermutlich war es einfach regional sehr unterschiedlich, wie die Beikost gehandhabt wurde. Was man immer wieder liest, ist, dass das Abstillen nicht in den heißen Sommermonaten stattfinden soll, da die Kinder dann häufiger an Verdauungskrankheiten leiden.


So, das sollte erst mal eine gute Grundlage sein. Jetzt seid ihr dran. :mrgreen:
Was geht euch durch den Kopf, wenn ihr das lest? Worüber möchtet ihr reden? Was sind eure Erfahrungen? Worüber möchtet ihr mehr wissen?

Liebe Grüße
Karin

Quellen:
(1) Gustav Temme, "Die sozialen Ursachen der Säuglingssterblichkeit", 1908
(2) Dr. med. Ernst Kormann, "Das Buch von der gesunden und kranken Frau", 1883
Ginevere
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Re: Eine kurze Geschichte des Stillens - Sammelstrang

Beitrag von Ginevere »

Das liest sich wirklich sehr interessant, vielen Dank für die vielen Infos!

Vielleicht sollte ich das auch mal in meiner Familie recherchieren. Bisher weiß ich nur, dass wir wohl insgesamt recht stillwillig sind. :lol: Sowohl meine beiden Omas als auch meine Mutter haben gestillt, meine Mutter sogar jeweils ein Jahr lang.

Mir will einfach nicht in den Kopf was damals passiert ist was die Menschen dazu gebracht hat, so sehr ihre Instinkte zu vergessen. Schließlich besagt der bei JEDER Mutter (behaupte ich jetzt mal): Wenn dein Baby vor Hunger weint, dann gib ihm was!
LG Gini
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Re: Eine kurze Geschichte des Stillens - Sammelstrang

Beitrag von jusl »

Eine tolle Idee, vielen Dank! :D
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elk
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Re: Eine kurze Geschichte des Stillens - Sammelstrang

Beitrag von elk »

Sehr spannend zu lesen. Vielen Dank für die schon mal sehr tolle Recherche! Bin gespannt was da noch so kommt!
Tutti hat geschrieben:There is no way to be a perfect parent
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Maikäfermädchen (05/12)
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mirabelle
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Re: Eine kurze Geschichte des Stillens - Sammelstrang

Beitrag von mirabelle »

Hallo!
Das sind ja super interessante Infos! :) Mich würde mal interessieren, was früher als Mumi-ersatz gegeben wurde.Meine Schwiemu behauptet, sie und ihre Schwestern hätten KEINE Milch bekommen auch nicht tierischen ursprungs sondern von Anfang an nur verdünnten Haferschleim (Bäh, :evil: ) kann das stimmen? Das soll in den 40 ern gewesen sein.
Sehr interessant finde ich auch das thema stillen und Nationalsozialismus. Die Nazis sahen es ja als Mutterpflicht an, dass Babies gestillt werden, haben das Stillen durch strenge Regeln aber eher behindert. In dem Buch "Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind" von Johanna Harrer ( :evil: :twisted: :evil: !!!) kann man das nachlesen.Das schlimme ist, dass dieses Buch bis in die 80er immer wieder neu aufgelegt wurde.
Darin stehen so Sachen wie: die ersten 24h nach der Geburt strenge Trennung von Mutter und Kind, dann Anlegen im strikten 24-h Rhythmus, kein "unnötiges" Kuscheln am Busen, und NATÜRLICH das Verwöhnmonster nicht einschleichen lassen....
Auch ältere Kinder blieben vor Grausamkeiten nicht verschont: aß das Kind den Brei nicht auf, sollte es die Pampe bei jeder Mahlzeit neu vorgesetzt bekommen, bis sie leergegessen war.....
Das Buch ist GSD vergriffen aber interessant zu lesen, weil man dann den Ursprung vieler Mythen besser versteht. Ganz klar: die wollten Soldaten ranzüchten und das gelang am Besten durch eine harte Erziehung, in denen die Kinder von jeglicher (Mutter-)Liebe abgeschnitten waren.
Liest man dann parallel noch Michel Odent und was der dazu zu sagen hat, gehen echt ein paar Lichter an. :idea:
Lg
kleines Koalabärchen 07/12

"Ehe man eigene Kinder hat, hat man nicht die leiseste Vorstellung davon, welches Ausmaß die eigene Stärke, Liebe oder Erschöpfung annehmen kann."
Athene79
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Re: Eine kurze Geschichte des Stillens - Sammelstrang

Beitrag von Athene79 »

Eine sehr interessante Idee. Ich dachte schon länger, dass so ein Buch fehlt.
Mir fielen beim Lesen gleich einige FRagen ein:
1890 wurden in Berlin an der Brust ernährt 50,7%, 1895 = 43,1%, 1900 nur 32,5%."
Also, da ich das Buch nicht da habe und auch keine Uni-Bib in der Nähe: Auf Kinder welchen Alters bezieht sich die Aussage? Wenn es Dir um die Kindersterblichkeit im 1.Lj geht, dann sollten es zur besseren Vergleichbarkeit 1-jährige sein.
Eng mit den Stillquoten verbunden sind die Sterberaten. Wo wenig gestillt wurde, starben mehr Babys. Nichtgestillte starben 5-12 mal so häufig wie gestillte Säuglinge.
Woher kommt diese Aussage? Wurden hier andere Faktoren einberechnet, wie beispielsweise der sozioökonomische Hintergrund? In stark industrialisierten Gegenden, wo viele Kinder mangelernährt waren, wo die Umweltverschmutzung hoch war, die Eltern beide arbeiten mussten und die Mütter alleine schon deshlab nicht stillen konnte, ist die Sterblichkeit höher gewesen.
im Großherzogthume Baden 26,13 % (hier bei den jüdischen Familien nur 15 %)
Das wäre ein interessanter Ansatzpunkt, an dem man vergleichen könnte: Hier lässt sich pauschal sagen, dass im Judentum länger gestillt wird, es jüdischen Eltern finanziell besser ging und auch die medizinische Versorgung besser war. Aber trifft das auch auf die zu, die im Großherzogtum Baden lebten?

Ich könnte noch viel mehr schreiben, aber ich habe hier vier Kinder rumturnen und kann daher kaum vernünfitge Gedanken fassen bzw. formulieren. Mit welchem Zeitpunkt soll die Geschichte anfangen? Ich könnte mal nachgucken, ob ich etwas zum Thema "Stillen im antiken Griechenland" finde.

Worüber mein Mann und ich uns gestern unterhalten haben, war die Frage nach der Stillquote 1950 in der DDR.
Hier wird wieder gestritten, muss aufhören.
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cosima83
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Re: Eine kurze Geschichte des Stillens - Sammelstrang

Beitrag von cosima83 »

Aus dem Buch "Stillen - einst und Heute":
Die hohe ideelle Einstellung zum Stillen und das offensichtliche Fehlen anderer geeigneter Säuglingsnahrung haben deshalb zu der allgmeinen Auffassung geführt, dass Säuglinge in den vergangenen Jahrhunderten fast ausnahmelos gestillt worden seine, wenn nicht durch die Mutter selber, dann durch eine Amme. Aussagen wie "wenn die Muttermilch nicht alle Bedürfnisse eines Säuglings decken würde, wäre die Menschheit in den Jahrhunderten, in denen Muttermilch die einzige Ernährung war, längst ausgestorben" werden allgemein als richtig und zutreffend akzeptiert.

Heute wissen wir, dass Stillen , besonders bei der weißen Rasse, auch früher nicht so selbstverständlich war, wie wir uns dies vorstellen. Offensichtlich bereitete Stillen den Müttern auch in früheren Zeiten nicht nur Freude.
Jedenfalls gehen schriftliche Erwähnungen von Versuchen die Kinder ohne Muttermilch zu ernähren oder Funde von Trinkgeschirr für Säuglinge in früheste, sogar prähistorische Zeit zurück, werden in den gleichen Zeiträumen festgestellt, wie die ersten Erwähnungen des Stillens.
......
im Alten Ägypten existierte bereits das Horn als Suggefäß, wie dies noch bis zur Einführung der Glasludeln (Beginn 18. Jhd.) auch bei uns im Gebrauch war.

Der um 1500 geborene Schweizer Humanist Thomas Platter schreibt in seiner Autobiographie, dass seiner Mutter "di brist we than händ, das sy mich nicht hat mögen seigen, han ouch sonst nie kein Frowenmilch gsogen, wie mir mein Mutter sälig selber gsagt hat. Han dürch ein Hörelin wie im Land der Bruch ist, wenn man die Kind enwent, miesses kiemilch sugen."
......

Kindersterblichkeit 1892 in Bayern

schlechte Stilltätigkeit in Oberbayern, Niederbayern, Franken
Durchschnittliche Sterblichkeit
1. Jahr 44%
2.-5.Jahr 9,8%
6.-10. Jahr 2,9 %

Total 56,7%

gute Stilltätigkeit in der Pfalz, Oberfranken, Unterfranken
1. Jahr 26,3%
2.-5.Jahr 14,5%
6.-10. Jahr 4,1%
......
Die Gründe für dieses Verhalten sind alles andere als klar.

Thesen:
- auf die jungen Frauen wartete schon bald nach der Geburt wieder schwere Feldarbeit
- in Tirol soll die enganliegende, satt geschnürte Tracht das Stillen verunmöglicht haben
- Moraltheologen verboten den Geschlechtsverkehr während des Stillens
- übertriebenes Schamgefühl vor der Entblößung der Brust
- In Innsbruck wurde die wertvolle "mariae lactans" von Lucas Cranach (1530) im 19jhd. mit einer echten Brosche bedeckt und nach Raub dieses Schmuckes mit Geschmeide übermalt
- aus einem oberbayrischem Bezirk wird berichtet, das eine aus Norddeutschland zugewanderte Frau, die nach Heimatsitte ihr Kind stillen wollte, von Frauen des Dorfes als "schweinisch und unfläthig" beschimpft wurde und ihr Ehemann ihr drohte, dass er nichts von ihrer Hand gekochtes mehr essen mag, wenn sie die "Schweinerei nicht aufgebe".

Anderen Autoren zufolge, liegt dem Phänomen doch am ehesten eine unterschiedliche Mentalität für die Wertschätzung und Hingabe zum Kind zugrunde, beeinflusst durch eine Vielzahl wirtschaftlicher, religiöser, konfessioneller, traditioneller und ökomischer Faktoren."
Stillen einst und heute, Hans Marseille Verlag GmbH München , 1997
Bild
TB NRW GK 10/12
feuerdrache
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Re: Eine kurze Geschichte des Stillens - Sammelstrang

Beitrag von feuerdrache »

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inmediasres
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Re: Eine kurze Geschichte des Stillens - Sammelstrang

Beitrag von inmediasres »

Hallo mirabelle.
mirabelle hat geschrieben:Mich würde mal interessieren, was früher als Mumi-ersatz gegeben wurde.Meine Schwiemu behauptet, sie und ihre Schwestern hätten KEINE Milch bekommen auch nicht tierischen ursprungs sondern von Anfang an nur verdünnten Haferschleim (Bäh, :evil: ) kann das stimmen? Das soll in den 40 ern gewesen sein.
Ja, das kann sein. Bekannte Ersatznahrungen sind beispielsweise
- Kuhmilchgemische, seltener aus Ziegenmilch, Stutenmilch (mitunter hat man das Kind direkt an der Zitze der Ziege trinken lassen)
- Schleim aus Hafergrütze, Graupen, Gerste, Weizenmehl
- Eiertränke "Man giebt in den ersten Lebenswochen ein frisches Eiweiß auf ca. 1 1/2 Pfd. abgekochten Wassers, quirlt es sorgfältig und macht es mit etwas Kochsalz schmackhaft." (2)

Die heutigen Milchpulver sind aus den sogenannten Kindermehlen entstanden, deren Vorläufer die Liebig'sche Suppe war.

Aus Dr. med. Ernst Kormann, "Das Buch von der gesunden und kranken Frau", 1883:
Zur Darstellung der Liebig'schen Suppe verkauft man zwar in den Apotheken das fertig gemischte Suppenpulver. Es ist jedoch viel zweckmäßiger, wenn die Mütter sich der Mühe unterziehen, die einzelnen Bestandtheile der Suppe sich zu besorgen und die selbst zu mischen. So sieht jede Mutter besser die Qualität dessen, was sie für ihren Liebling bereitet. Sie besorge sich 500 Gr. Weizenmehl Nr. 3 und ebensoviel Gerstenmalz, welches man nach sorgfältiger Entfernung von Verunreinigungen und verschiedenen darunter befindlichen Sämereien auf einer Kaffeemühle mahlt und durch ein nicht zu feines Haarsieb durchsiebt. Das, was durchgeht, ist das zur Verwendung bestimmte Malzmehl. Die Kalilösung stellt man dar, indem man krystallisirtes, doppelkohlensaures Kali in der Apotheke kauft und davon 2 Theile auf 11 Theile Wasser auflöst. Schließlich ist noch gute, nicht angerahmte Kuhmilch zur Suppe nöthig. Um das Verhältniß der stickstoffhaltigen zu den stickstofffreien Bestandtheilen der Frauenmilhc (1 : 3,8) zu erzielen, bedarf man 10 Theile Kuhmilch und je 1 Theil Weizen- und Malzmehl.

Um nun die Suppe darzustellen, mischt man 17,5 Gramm Weizenmehl und ebensoviel Malzmehl mit 30 Tropfen obiger Kalilösung, setzt dazu 35 Gramm Wasser und 175 Gramm Milch und erhitzt in einem thönernen Topfe unter beständigem Umrühren bei gelindem Feuer, bis die Mischung dicklich wird. Jetzt entfernt man die Suppe vom Ofen, rührt 5 Minuten um, erhitzt nochmals und setzt bei neuer Verdickung nochmals ab, endlich aber, wenn die Suppe dünnflüssig und süß geworden ist, kocht man sie einmal auf. So dargestellt, hält sich die Suppe 24 Stunden lang und wird, da sie die doppelte Concentration der Frauenmilch hat, anfangs mit der Hälfte, später nur einem Drittel heißen Wassers verdünnt dem Säuglinge gegeben.

Die Darstellung dieser Suppe wollte man durch Mischen ihrer Bestandtheile erleichtern und man erhielt dieselben, in Packeten für den täglichen Gebrauch abgetheilt, in den Apotheken. Es ist jedoch, besonders wegen der Frische des Malzmehles, besser, die Ingredienzien selbst zu mischen oder sich aus denselben auf künstlichem Wege dargestellten, syropösen

Extracte der Liebig'schen Suppe zu bedienen. Unter diesen sind besonders das von Widemann (München), das von Loeslund (Stuttgart) und das von Liebe (Dresden) bekannt geworden. Letzteres wird unter dem Namen "Liebe-Liebig's Nahrungsmittel in löslicher Form" in luftdicht verschlossenen Büchsen verkauft und halbeßlöffelweise in halb Wasser und halb Milch gelöst. Jede Portion muß frisch dargestellt werden.

Die "Liebig'sche Suppe" wurde die Mutter verschiedener Milchsurrogate, unter denen auch eines mit condensirter Milch dargestellt wird. Da es ausgezeichnete Resultate ergiebt, so dürfen wir es nicht übergehen: es ist das Nestle'sche Kindermehl (farine lactee). Anstatt, wie Liebig, durch zugefügtes Malz, führt Nestle (Vevey in der Schweiz) das Stärkemehl des Weizens durch überhitzten Wasserdampf in die löslichere Form (Dextrin) über, läßt dann von diesem Weizenmehle Brod backen und von letzterem nur die kleberreiche Rinde äußerst fein pulvern, hierauf aber mit condensirter Milch und Zucker versetzen. Das fertige, staubförmige Pulver hat einen feinen Geschmack, der an frischgerösteten Zwieback erinnert, und eine Zusammensetzung, welche dem 4fachen Nahrungswerthe der Muttermilch gleichkommt; denn es enthält 1,95% Stickstoff und 0,7% Salze. - Man rührt von diesem Milchpulver für Säuglinge 1 Löffel voll mit 10 Löffeln kaltem Wassers an, läßt es sodann unter Umrühren aufkochen und giebt dies dann durch die Flasche. Später nimmt man 1 Löffel Pulver auf nur 8 Löffel Wasser, kehrt bei Verstopfung auf das anfängliche Verhältniß zurück und giebt bei etwaigen Durchfällen zwischendurch auch mal eine dickere Suppe, im Verhältnisse von 1 : 6. Größere Concentration als Brei paßt erst für spätere Zeiten. Der Trank schmeckt den Kindern köstlich und sie gedeihen gut. Nur der Preis von 1 Mark 35 Pf. Für jede Büchse(= ½ Kilo) ist etwas hoch.

Eine Nachahmung des Nestle'schen Kindermehls ist von Gissen, Schiele u. Co. in Rohrbach (Amt Eppingen; Baden) täuschend ausgeführt worden, hat dieselben guten Resultate gegeben, als das erstere, und ist zum Preise von 1 Mark 25 Pf. Pro Büchse (mit 1 engl. Pfund Inhalt) zu haben.

Hierher gehören noch weitere Concurrenzartikel, so z. B. das von Faust und Schuster in Göttingen aus frischer Milch dargestellte Göttinger Kindermehl (Milchmehl), das den Nahrwerth des Nestle'schen noch um 15-18% übertreffen soll und zum Preise von 1 Mark 40 Pf. pro Büchse verkauft wird.

Aehnlich dargestellt und zu etwas mäßigerem Preise verkauft wird das Braunschweiger Milch- oder Kindermehl, das von der Extract-Fabrik Braunschweig sehr gut zubereitet wird: 500 Gramm kosten 1 1/4 Mark, 2 1/2 Kilo 5 1/2 Mark. Auch hier sind die in demselben vorhandenen Nährstoffe in leicht verdaulichen Zustand übergeführt.

In vielen Fällen hat uns auch Timpe's Kraftgries (100 Gramm für 0,40 Mark) recht gute Dienste geleistet, besonders bei Durchfällen. Timpe (Magdeburg) bereitet sein Kindernahrmehl aus Cacao, Gries, Arrow-Root, Salep, Candis- und Milchzucker. Man giebt es in Wasser gekocht in demselben Verhältnisse wie das Nestle'sche Mehl (1:10). Später wird allmälig Milch zugesetzt, dabei aber der Rath und die Aufsicht des Arztes nöthig sein.

Auch das "preisgekrönte Auerbach'sche Kindermalzpulver" von der Malzpulverfabrik von H. Auerbach in Berlin (Stralauer Str. 13 und 14) ist für Kinder, welche besonders im Sommer die Milch nicht vertragen, gut zu benützen, da es angenehm schmeckt. Es wird in 2 Sorten dargestellt, deren erstere einen größeren Zuckerzusatz zu erhalten scheint als die zweite. Man rührt davon 3-4 Thelöffel mit kaltem Wasser an, gießt dies dann in eine Tasse kochenden Wassers oder desgl. Fleischbrühe und läßt dann unter Umrühren aufkochen. Der Preis beträgt für das halbe Kilo 1,40 Mark.

Bei der Zubereitung aller dieser Milchpulver, wie aller Mehl- und Stärkemehlsorten, weiß wohl jede Hausfrau, daß sie kalt angerührt werden müssen, ehe sie im Wasser aufgekocht werden. Denn nur so können sie feinvertheilt (klümpchenfrei) dem Kinde gereicht werden."
mirabelle hat geschrieben: Sehr interessant finde ich auch das thema stillen und Nationalsozialismus. Die Nazis sahen es ja als Mutterpflicht an, dass Babies gestillt werden, haben das Stillen durch strenge Regeln aber eher behindert. In dem Buch "Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind" von Johanna Harrer ( :evil: :twisted: :evil: !!!) kann man das nachlesen.
Das steht nicht nur bei der Haarer so. Sämtliche zu der Zeit erschienenen Werke schlagen in dieselbe Kerbe. Und das waren viele. Dazu kommt noch, dass deren Verbreitung politisch gefördert wurde. Mütterberatungsstellen, Krankenhäuser gaben Schriften an junge Mütter ab und verbreiteten die aus heutiger Sicht fürchterlichen Ansichten. Damals war das hochmodern. Dem ging eine lange Entwicklung voraus, wie ich ja in meinem Ursprungsposting schon angedeutet habe.

Ich bin mir nicht sicher, ob Haarer selber so einen Einfluss hatte, wie es bei Sigrid Chamberlain den Eindruck macht. Ich denke, man kann sie nur als Beispiel für die Zeit sehen. Miriam Gebhardt setzt sich auch mit Chamberlain auseinander. Zwei sehr lesenswerte Bücher:
Sigrid Chamberlain - Adolf Hitler, die deutsche Mutter und ihr erstes Kind
Miriam Gebhardt - Die Angst vor dem kindlichen Tyrannen

Viele Grüße
Karin
Antworten

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